Chronik

Wie alles begann …

Zeitgeschehen rund um das Jahr 1868

tageszeitung-1868Das Gründungsjahr -1868- des Minden-Ravensberger-Turngaues fällt in eine unruhige Zeit: Nicht nur in Preußen brodelte es.
Unter Stein, Hardenberg und Scharnhorst wurden weitreichende Reformen (Bauernbefreiung, Städte- und Heeresreform) durchgeführt. Nach jahrelangen kriegerischen Auseinandersetzungen war es gelungen, 1867 die norddeutschen Staaten unter Preußens Führung zum „Norddeutschen Bund“ zu vereinigen. Dies war maßgeblich Bismarcks Verdienst. 1871 schlössen sich die süddeutschen Staaten mit dem Norddeutschen Bund zum „Deutschen Reich“ zusammen. Der preußische König, Wilhelm I., wurde Deutscher Kaiser.

Die Industrialisierung in jener Zeit schreitet voran. Durch die Eröffnung des Suezkanals (1868) steigt die weltwirtschaftliche Bedeutung des Mittelmeeres und des Indischen Ozeans.

Die Arbeiterbewegung unter Liebknecht und Marx (1867 erscheint sein Buch „Das Kapital“) gewinnt immer mehr Anhänger und schließt sich 1864 der „Internationale“ an. Im Frühjahr 1867 hat die Sozialdemokratie nur einen Abgeordneten (Bebell) und im Herbst bereits sieben Abgeordnete im Reichstag. 1869 wird in Eisenach die Sozialdemokratische Arbeiterpartei gegründet. Schon seit 1865 beginnt sich die Gewerkschaftsbewegung zu bilden als Einrichtung, um den Arbeitern zu ihren Rechten zu verhelfen.
Soziale Hilfe wurde aber schon viel früher durch konfessionelle Verbände geleistet: Kolping ruft den katholischen Gesellenverein ins Leben, protestantische Gründungen waren die „Herbergen zur Heimat“ und die Arbeiterkolonien. Weltweite Hilfe wird den Verwundeten und Kranken der Kriege nach der Genfer Konvention von 1864 durch das „Deutsche Rote Kreuz“ zuteil.

Seit etwa 1850 entwickelt sich die Presse zu einer bedeutenden Macht im öffentlichen Leben. Wilhelm Busch und Gustav Freytag haben in jener Zeit viele politische Zeitungsbeiträge geliefert.

In Literatur und Kunst begegnen uns Namen wie Otto Ludwig, Friedrich Hebbel, Adolf Menzel. Auf dem Gebiet der Musik treten Mendelssohn, Brahms, Liszt und Wagner hervor. Der Opemkomponist Gioacchino Rossini stirbt 1868 – der Balladenkomponist Karl Loewe 1869. Alfred Brehm verfaßt sein Werk „Tierleben“ und gründet in Berlin das „Aquarium“.
Auf allen Gebieten haben Wissenschaft und Forschung weltbewegende Erfolge. Reisen in unbekannte, unerforschte Länder und Kontinente werden unternommen. Der Geograph Ferdinand von Richthofen führt 1868 eine Forschungsreise nach China durch. Gustav Nachtigal erforscht die Sahara und den Sudan. Erfindungen wie das Zelluloid oder die Herstellung von Margarine aus Rindertalg oder auch der Hinterrad-Kettenantrieb für Fahrräder sind von ziemlicher Bedeutung.
In dieser auf jedem Gebiet bewegten Zeit wurde 1868 die “ Deutsche Turnerschaft“ gegründet und mit ihr 229 Turngaue, darunter auch unser „Minden-Ravensberger Turngau“. Dadurch wurde die Vermittlung des allgemeinen Lehrstoffes und die Organisation gemeinsamer Veranstaltungen erleichtert.

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Der älteste Turnplatz Westfalens wurde in unserem Gaugebiet, nämlich in Meißen bei Minden, 1818 gegründet.

Dem 100-Jahre-Jubiläum des TuS Meißen im Jahre 1992 verdanken wir die akribische wissenschaftliche Erforschung der Vorgänge um die Gründung des ersten westfälischen Turnplatzes. In der Meißener Festschrift hat der Sportwissenschaftler Dr. Karl-Heinz Schodrok aus Brilon-Alme diesen Nachweis nach langen Recherchen im Staatsarchiv Detmold geführt.

Die hochinteressanten Einzelheiten – sogar ein Namensverzeichnis der ersten 47 Turnschüler befindet sich darunter – wollen wir auszugsweise einem größeren Leserkreis gern verfügbar machen.
Sie runden das Bild wesentlich ab, das uns bereits Emil Casselmann in seinem Werk“ Deutsches Tumertum im Lande Widukinds“ (auf Seite 41/42) vermittelt hat.

Halten wir fest, dass im Jahre 1811 Friedrich Ludwig Jahn auf der“ Hasenheide“ in Berlin den ersten Turnplatz errichtet hat. Ähnliche Bemühungen um die Erstellung eines Turnplatzes im Regierungsbezirk Minden reichen bisindasJahr1816zurück. Sie führten schließlich dazu, dass an der Preußischen Klus im Meißener Holz ein entsprechender Platz gefunden wurde, der seinen Betrieb am 17. Juli 1818 nachmittags um 15 Uhr aufnahm.

Die offizielle Zustimmung hierzu lautete wie folgt:

Das Ministerium des Innern genehmigt die nach dem Bericht der Königlichen Regierung vom 28ten Mai d.J. getroffene Einleitung wegen Anlegung einer öffentlichen Turn-Anstalt als zweckmäßig, und hat um die nützliche Sache nach Möglichkeit zu unterstützen, die Generalkasse des Ministeriums dato angewiesen, die zur ersten Einrichtung erbetenen 200 Rtl. an die dortige Regierungshauptkasse abzusenden. Über die spezielle Verwendung dieser Summe, wird von der König!. Regierung Bericht zur Rechnungs-Justifikation zu seinerzeit erwartet. Bei der Bewilligung des von der Königl. Regierung zu der Turnanstalt erbetenen Platzes von 3 Morgen aus der Königl. Meißner Forst, hat das König/. Finanzministerium auf so lange als die Turn-Anstalt bestehen wird, keine Bedenken gefunden, und wird von Seiten desselben alsfalls besondere Verfügung erfolgen.

Berlin, den 10ten Juli 1817
„Ministerium des Innern – Zweite Abteilung. Nicolovius“

Der Turnplatz hatte eine Länge von 320 Fuß (= 100,4 m) und eine Breite von 240 Fuß (= 75,3 m). Die Gesamtherstellungskosten für Erdarbeiten sowie für die Einrichtung mit Turngeräten beliefen sich auf 250 Reichsthaler, 14 Groschen und 3 Pfennig.
Eine besondere Einweihung war für den 3. August, dem Geburtstag Friedrich Wilhelms III., geplant. Hierzu hatten die Mindener Turner an die befreundeten Turnvereine von Bückeburq und Rinteln dieses Einladungsschreiben gerichtet:

„Liebe, ältere Brüder!“ –
Also begrüßen wir Euch und haben herzlich lieb Euch unter dem Namen, und bitten, Daß auch ihr uns als Eure Jüngere aufnehmen wollt in jene rüstige Gemeinschaft und Bruderschaft heranblühender deutscher Jugend, welche der deutschen Ehrenmann Friedrich Ludwig Jahn, unter dem Zeichen der Turnfahne im mütterlichen Schoße des gemeinsamen deutschen Vaterlandes versammelt und gestiftet hat. Und wie von uns übermorgen, als am 3ten August, der Geburtstag unseres geliebten Königs und Landesvaters gefeiert werden soll – ein nicht bloß allen Preußen, sondern allen Deutschen und vornehmlich allen deutschen Turnern heiliger Tag, weil der Name Friedrich Wilhelm voranglänzt unter den Errettern Deutschlands und den Beschützern des Turnwesens; -Als begehren wir freundlich an Euch, liebe Brüder, Ihr wollet diesen schönen Tag uns verschönern durch Eure Gegenwart und ihn uns begehen helfen mit ernstem und fröhlichem Turnspiel und dann einen Becher klingen lassen auf das Wohl unsers Königes und Deutschlands und auf das Gedeihen des Turnwesens und der Turner Brüderschaft im allgemeinen und unserer insbesondere. Nachmittags 4 Uhr, am 3. d.M. wollen wir demnach Eurer auf unserm Turnplatze warten, in Hoffnung der nicht von Euch zu verschmähenden brüderlichen Ladung.

– Minden, den 1. August 1818 -„
(Einzelne Namensunterschrift aller Turner)

Leider währte die Freude an dem Turnplatz nicht lange. Die politische Entwicklung war gegen die Bestrebungen der Turnbewegung gerichtet. So wurde auf Befehl des Oberpräsidenten die Eröffnung des Platzes in Meißen für die Saison 1819 auf unbestimmte Zeit verschoben.

König Friedrich Wilhelm III. befahl sodann am 23. März 1820 die Schließung sämtlicher Turnplätze in Preußen. Das war auch das „Aus“ für den Turnplatz in Meißen.

Die Turngeräte wurden abgeräumt und versteigert. Der Erlös brachte 27 Reichsthaler, 3 Groschen und 9 Pfennige.

Auf dem Turnplatz wurde mit Genehmigung der Bezirksregierung eine Baumschule errichtet.

Damit endete die Geschichte des ersten Turnplatzes von Westfalen.